Irak zwischen friedlichem Aufstand und gewaltsamer Repression
„Das Volk will das Regime stürzen“ hallt es seit Wochen durch irakische Straßen. Seit dem 1. Oktober demonstrieren im Irak landesweit Millionen von Menschen – besonders in den südlichen Provinzen Basra, Dhi Kar, Kerbala, Hilla und Bagdad. Allein am 30. Oktober sollen sich Schätzungen zufolge 3 Millionen Menschen den landesweiten Massenprotesten gegen Korruption, hohe Arbeitslosigkeit und Perspektivlosigkeit angeschlossen haben. Über 320 Menschen sind bereits gestorben, an die 3000 wurden verletzt. Besonders junge Menschen mobilisieren sich. Neu ist auch, dass die Proteste sich durch eine fehlende Organisationsstruktur auszeichnen und durch die massive Ablehnung der Vereinnahmung durch traditionelle Parteien.
von Alisha Molter
Anhaltende Proteste seit 2015 : Gründe für die “Oktober-Revolution”
Der Irak ist einer der größten Ölförderer der Welt, aber von dem Reichtum kommt nicht viel bei der Bevölkerung an. Viele Ressourcen sind in den Kampf gegen den IS und den Wiederaufbau geflossen, doch das Bildungssystem und Schulen sind in desaströsen Zuständen, es fehlt an Arbeitsperspektiven, die Infrastruktur ist marode und die grassierende Korruption zieht sich durch alle Lebensbereiche der Irakerinnen und Iraker.
Im Sommer des vergangenen Jahres gingen insbesondere in Basra, Nassiriya und Bagdad immer wieder tausende von Menschen gegen Korruption, fehlende Stromversorgung und verunreinigtes Trinkwasser auf die Straßen. Mindestens 118.000 Menschen mussten das Krankenhaus aufgrund von schweren Symptomen aufsuchen. Trotz Versprechungen der Regierung hat sich seitdem im Süden des Landes kaum etwas geändert.
Seit dem 1. Oktober ist vor allem die junge Generation wieder auf den Straßen. Die andauernden Demonstrationen zeigen, dass die Menschen im Irak immer weniger Vertrauen in die Lösungsfähigkeiten der durch Konfessionalismus geprägten politischen Entscheidungsebene haben.
Doch der Triggerpunkt der anhaltenden Proteste war noch ein weiterer: Am 29. September 2019 zwangsversetzte Premierminister Abdul Mahdi Generallieutnant Abdul Wahab Al Saadi ohne Angabe von Gründen auf einen Büroposten im Außenministerium – der schiitische General war besonders dem Iran schon länger ein Dorn im Auge. Al Saadi war im Jahr 2015 zum irakischen Nationalhelden aufgestiegen, als er als Offizier der irakischen Anti-Terroreinheit mit einer Truppe von nur 250 Irakern den IS in Beji besiegte. Al Saadi hatte damals Hilfe von ausländischen Kräften mit der Begründung abgelehnt, dass Geschichtsbücher sonst schreiben würden, dass der Sieg kein irakischer Sieg gewesen sei. Damit hatte Al Saadi zugleich Kritik an der Einflussnahme des Iran und der im Irak anwesenden iranischen Milizen geübt.
Nach der Degradierung des Generals Ende September formierte sich landesweit Widerstand und Irakerinnen und Iraker brachten auf Twitter unter dem Hashtag “Wir sind alle Abul Wahab Al Saadi” ihre Solidarität mit dem General zum Ausdruck, der für viele Irakerinnen und Iraker zum Inbegriff einer parteilosen öffentlichen Person geworden ist, die sich gegen sektiererische Politik sträubt. Nach der Versetzung Al Saadis brachen landesweit die Proteste aus.
Die Regierung hat Vorschläge entwickelt, an denen sie in den kommenden Wochen gemessen wird. Präsident Barham Salih versprach eine Wahlreform und vorgezogene Neuwahlen. Zudem soll die Verfassung geändert werden. Hierfür wurde im Repräsentantenrat bereits ein Gremium von 25 Parlamentarier*innen beauftragt, um Vorschläge zu Verfassungsreformen zu erarbeiten. Ob das jedoch die Vertrauensbasis wieder herstellen kann, ist fraglich.
Denn zum einen sind Parlamentarier*innen (wie etwa die ehem. Vorsitzende des Frauenausschusses Haifa Al Amin), die in der Vergangenheit positive Reformen vorangetrieben haben, aufgrund der gewaltsamen Reaktionen der Regierung zurückgetreten und fordern nun den Rücktritt der Regierung. Zum anderen ist die Beteiligung der Zivilgesellschaft an der Ausarbeitung der Reform nicht vorgesehen – sie soll lediglich in Form eines Referendums über Annahme oder Ablehnung der Verfassungsreform entscheiden dürfen. Aktivistinnen aus der Zivilgesellschaft fordern deshalb ein Gremium von Technokrat*innen und die Einbindung von Expert*innen und Jurist*innen in die Reformbestrebungen. “An engagierten und qualifizierten Personen aus der Zivilgesellschaft, die man zu der Reform konsultieren könnte, fehlt es in jedem Fall nicht”, so eine bekannte Anwältin und Aktivistin aus Bagdad. Und auch auf dem Tahrir Platz in der Hauptstadt ist das Misstrauen groß: “Sie machen viele Versprechungen, aber bis wann sie diese umsetzen wollen, sagen sie nicht. Sie machen lieber absurde Vorschläge, wie etwa jedem jungen Demonstranten 100 USD anzubieten-als wenn das die Probleme lösen würde”, meint ein Aktivist aus Bagdad.
Eine junge Revolution gegen Korruption und Perspektivlosigkeit
Für die überwiegend junge Bevölkerung die in den letzten 16 Jahren seit dem Sturz Saddam Husseins sozialisiert und politisiert wurde, ist Demokratie oft gleichbedeutend mit Korruption, und einer politischen Führung, die in die eigenen Taschen wirtschaftet. Aktivist*innen beobachten eine zunehmende Idealisierung der Vergangenheit und des autoritären Regimes unter Saddam Hussein in Teilen der irakischen Bevölkerung.
Dies spiegelt sich auch in einem Umfrageergebnis des Arab Barometers zur Frage der Demokratie wider, in dem es lautet: “…most Iraqis are not perfectly convinced of the suitability of democracy for their country.”
Die Macht des Volkes entdecken die Irakerinnen und Iraker derzeit jedoch neu. Von Studentinnen und Studenten bis zu Jugendlichen aus sozial benachteiligten Stadtteilen Bagdads fordern sie nun Jobs, ein Ende der Korruption und ein neues politisches System. Auch junge Menschen aus Mosul sind aufgebrochen, um nach Bagdad zu gefahren, um dort mit den Bagdader*innen gemeinsam zu demonstrieren.
“In Mosul haben die Menschen Angst zu demonstrieren, da sie befürchten ihnen würde dann vorgeworfen sie wären mit der Befreiung vom Islamischen Staat nicht zufrieden und wünschten sich ihn zurück”, erzählt eine Freundin aus Mosul.
Auf dem Tahrir Platz im Zentrum der Hauptstadt besetzen junge Demonstrant*innen seit dem 25.Oktober ein einst im Saddam Hussein Stil erbautes Gebäude, das in den 1980er Jahren eine Shopping Mall und ein berühmtes türkisches Restaurant beherbergte und seit 2003 leer steht. Von dem “Türkischen Restaurant” unweit des Tigris überblicken die Demonstrant*innen die Sicherheitskräfte und beobachten die Lage. Unten herrschen teilweise bürgerkriegsähnliche Zustände. Rauch steigt auf, die Sirenen der Einsatzkräfte sind allgegenwärtig. Einige der Protestler*innen übernachten sogar in dem verfallenen Gebäude. Am 29. Oktober schreibt ein Freund aus Bagdad:
Alle 90 Sekunden werden Tränengasbomben in die Menge geschossen, berichtet er. Zum Teil werden die Gasbomben direkt auf Demonstrant*innen gerichtet – viele Menschen erliegen ihren Verletzungen. Doch die größte Gefahr gehe von den Milizen aus, sie kümmere es nicht, wenn Menschen sterben. Am 4. November schreibt er, dass allein heute an der Al Ahrar Brücke, die zur “Grünen Zone” auf der gegenüberliegenden Seite des Tigris führt, 13 Menschen durch Gasbomben der Regierung gestorben seien.
“Sie wollen nicht, dass die Welt von der Gewalt erfährt”, erklärt eine Aktivistin aus Hilla. Wenn die irakische Regierung dieser Tage das Internet abstellt, stellen sich daher tausende Irakerinnen und Iraker auf das Schlimmste ein.
Man kann die Gefahr nicht kommen sehen, es fährt einfach ein Auto vorbei und aus dem Auto wird scharf auf uns geschossen”, berichtet Fatma, eine junge Studentin aus Bagdad.
Fragt man sich nun, warum so viele Menschen ihr Leben riskieren, wird eines deutlich: besonders die junge Generation hat nichts mehr zu verlieren.
Laut der irakischen Regierung liegt die Jugendarbeitslosigkeit bei rund 20%, Schätzungen des IMF zufolge ist sie jedoch mehr als doppelt so hoch. Angesichts der Tatsache, dass 60 % der Bevölkerung unter 24 Jahren sind, ist diese hohe Arbeitslosenzahl unter Jugendlichen umso dramatischer. Viele junge Studenten versuchen daher nach ihrem Abschluss eigene Ideen zu verwirklichen. Dementsprechend ging in den vergangenen Jahren die Zahl von Start Up Initiativen und Co-Working-Angeboten wie etwa das “Five One Labs” in Suleimania oder die “Station” in Bagdad in die Höhe. Eine Förderung solcher Start Ups durch die Regierung fehlt. Laut einer Umfrage des Arab Barometer befinden nur 6 % aller irakischen Jugendlichen die Performance der Regierung bei der Schaffung von Jobperspektiven für gut. 9 von 10 Befragen (95%) im Irak geben an, dass persönliche Beziehungen (sog. “Wasta”) notwendig sind, um einen Job zu bekommen.
So riskieren die jungen Irakerinnen und Iraker in den Protesten sogar ihr Leben – das macht sie derzeit für die Regierung Al Mahdis besonders gefährlich.
Soziale Frage, Korruption und iranische Einflussnahme im Zentrum der Proteste
Die soziale Frage ist längst wichtiger geworden als die Religionszugehörigkeit. Irakische Flaggen werden geschwenkt, religiöse Symbole sind weitestgehend abwesend. Die Demonstrantinnen und Demonstranten gehen auch gegen korrumpierte religiöse Führungen ihrer eigenen Gruppierungen auf die Straßen und wenden sich hörbar gegen die Einflussnahme des Iran. Der Iran hat großen Einfluss auf das politische Geschehen im Irak. So war es der im Iran geborene Großayatollah Al Sistani, der 2014 in einer Fatwa alle politischen Akteure zur Verteidigung des Irak gegen den IS aufrief, nachdem dieser im Juni 2014 die zweitgrößte irakische Stadt Mossul eingenommen hatte. Ein Bündnis aus schiitischen Gruppen (die direkte Unterstützung vom Iran erhielten), sowie einigen sunnitischen Stammeskriegern leistete folge und begründete daraufhin die “Hascht Al Shaabi” oder Popular Mobilization Forces (PMF), die aus rund 40 Gruppierungen bestehen, zu denen auch im Parlament vertretene Parteien und ihre Milizen gehören. Offiziell fallen die PMF unter die Kontrolle des irakischen Innenministeriums. Ihre Parteien und Milizen agieren jedoch oft unabhängig und sind eng mit Iran verbunden.
In Bagdad und anderen Provinzen zündeten Demonstrant*innen im Zuge der Proteste die Parteibüros von führenden Politiker*innen an, darunter auch das Büro der Abgeordneten Hanane Al Fatlawi, der sowohl Korruptionsskandale anhängen, deren Nähe zu Iran öffentlich bekannt ist und die öffentlich eine radikal-sektiererische Politik vertritt. (Vgl. hierzu auch das sektiererische Statement von Hanane Al Fatlawi aus dem Jahr 2016, dass “alle Sunniten korrupt und alle Schiiten ehrenwerte Menschen” seien.
Seit Oktober hört man sehr deutliche Worte gegen das Nachbarland, das starken Einfluss auf die Regierung in Bagdad nimmt und das durch seine Milizen (u.a Al Quds und Al Korashani Brigade) brutal gegen irakische Demonstrantinnen und Demonstranten vorgeht.
“F** Iran” regt sich eine junge Aktivistin aus Hilla auf und “Iran raus” hallt es durch viele Straßen des Landes, so auch in der schiitischen Hochburg Kerbala wo unlängst das iranische Konsulat gestürmt und die irakische Flagge an die Stelle der Iranischen gehängt wurde. Diese drastischen Worte und Taten werten irannahe Milizen als pure Provokation, die ein noch brutaleres Vorgehen nach sich zieht. Dem unabhängigen Investigativ-Netzwerk Bellingcat zufolge sterben viele Menschen auch durch Tränengaskanister, die aus nächster Nähe auf Menschen gerichtet werden – aufgrund ihrer Beschaffenheit durchdringen sie Fleisch und Knochen relativ leicht- dies führt zu lebensbedrohlichen Verletzungen und oft auch zum Tod.
Mit Hashtags und Graffitis gegen Gewalt
Über 320 Menschen sind schon gestorben. Für die Iraker*innen sind sie Märtyrer. Über 3000 Menschen wurden seit Beginn der Proteste durch den Einsatz von Schusswaffen und Tränengas verletzt- und die Opferzahlen steigen täglich.
Allein am 4. November sind 13 Menschen in Bagdad gestorben, am vergangenen Wochenende waren es ebenfalls 13 Personen. Zudem verschwinden immer wieder Journalist*innen und Aktivit*innen. Jüngstes Beispiel ist die Entführung des Journalisten Ali Hashim durch die Hashd Al Shaabi (PMF), die 2014 von dem schiitischen geistlichen Führer Al Sistani ins Leben gerufene “Volksbefreiungstruppe”. Ali Hashims Freunde, Familie und Bekannten starteten auf Facebook eine Gruppe, um ihn zu befreien.
Trotz aller Gewalt rufen die Protestler*innen immer wieder unter dem Hashtag #salmiyya (friedlich) zu friedlichen Protesten auf. Viele verzweifelte Menschen kommen in Videonachrichten zu Wort. Sie wenden sich an die UN und fordern internationale Aufmerksamkeit. Gleich zu Beginn der Proteste Anfang Oktober versuchten Irakerinnen und Iraker durch verschiedene Hashtags auf ihre Situation aufmerksam zu machen. Mit Hashtags wie
#Hello_world
#There_are_people_Making
#Revolution_now_in_iraq
und
#Show_your_support_for_the
#right_of_Iraq_people_to
#protest_peacefully
wendeten sie sich auf Englisch an die internationale Gemeinschaft.
Gleichwohl fehlt es an genauen Vorstellungen, wie die internationale Aufmerksamkeit aussehen soll. Die größte Qualität der Proteste, nämlich parteiunabhängig und konfessionsübergreifend Menschen zu mobilisieren, ist zugleich auch ihre größte Schwäche: Die Protestbewegung hat keine anerkannten Repräsentant*innen, die in der Lage wären sehr konkrete politische Forderungen zu verhandeln.
Nach einem Treffen der UN-Repräsentantin für Irak Jeanine Hennis-Plasschaert mit dem schiitischen geistlichen Führer Al Sistani am 11. November in Nadjaf ist die Kritik auf der Facebook Seite der UNAMI unüberhörbar. Großajatollah Al Sistani vertrete nicht die Mehrheit der Irakerinnen und Iraker lautet es in den Kommentaren. UNAMI hatte am gleichen Tag eine sog. Roadmap mit Empfehlungen an die Regierung veröffentlicht.
Unter anderem setzt sich UNAMI für den Schutz von Leben und Meinungsfreiheit sowie die Strafverfolgung von gewaltsamen Vorgehen gegen Demonstrant*innen ein. UNAMI empfiehlt der Regierung, regionale und internationale Parteien dazu aufzurufen, sich aus inner-irakischen Angelegen rauszuhalten, Maßnahmen zur Korruptionsbekämpfung zu etablieren und Reformen des Sicherheitssektors und des Wahlgesetzes umzusetzen. Diese Empfehlungen werden sowohl auf Seiten der Regierung als auch von Seiten einiger Protestler*innen als Einmischung in die inneren Angelegenheit des Irak gedeutet.
Dies macht erneut deutlich, wie sehr sich die Irakerinnen und Iraker Unabhängigkeit von ausländischen Akteuren wünschen.
Besonders ein Hashtag drückt diesen Wunsch vieler Irakerinnen und Iraker dieser Tage aus: #nurid_watan. Zu Deutsch: wir wollen eine Heimat, ein Heimatland. Der Traum eines vom Ausland unabhängigen Landes, das sich um all seine Bürger*innen sorgt, sie mitgestalten lässt und ihnen eine Zukunft bietet, ist groß. Viele Irakerinnen und Iraker fordern hierfür den Rücktritt der aktuellen Regierung und eine Verfassungsreform, um ein neues politisches System zu etablieren.
“Wir werden nicht aufhören zu demonstrieren, bis unsere Forderungen erfüllt sind”.
Darin sind sich die Irakerinnen und Iraker dieser Tage einig. Nun bleibt abzuwarten, wie die Führungen in Teheran und Bagdad mit den Protesten umgehen wird – es liegt in ihrer Hand ob der Irak einen neuen Bürgerkrieg erlebt, oder einen friedlichen Übergang finden kann.
*die Namen der Personen wurden aus Sicherheitsgründen geändert. Alle Personen sind der Autorin bekannt.